Szenenwechsel. Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im deutschen Spielfilm

Szenenwechsel. Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im deutschen Spielfilm

Organisatoren
Rijksuniversiteit Groningen
Ort
Groningen
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2008 - 26.09.2008
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Von
Petra Tallafuss

Die Tagung „Szenenwechsel. Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im deutschen Spielfilm“, die unter der Leitung von Wara Wende und Lars Koch vom 24. bis 26. September 2008 an der Rijksuniversiteit Groningen stattfand, beschäftigte sich mit filmischen Inszenierungen von scheinbarer Normalität, erschütterten Erwartungshorizonten und der Frage nach den spezifischen Möglichkeiten der symbolischen Form „Spielfilm“ im Hinblick auf im Kontext gesellschaftlicher Rahmenbrüche notwendige Normalisierungsleistungen. Da die vom Nicolaas Muleriusfonds und dem Goethe-Institut Amsterdam (Niederlande) maßgeblich unterstützte Konferenz keine Filmtagung im klassischen Sinne sein wollte, waren es weniger dezidiert filmästhetische Betrachtungen, denn die kulturwissenschaftliche Analyse filmischer Seismographien von gesellschaftlichen Balanceakten und Normbrüchen, die zu kontroversen Diskussionen einluden.

Anhand der Filme „Jud Süß“ (R: Veit Harlan, 1940) und „Friedrich Schiller. Triumph eines Genies“ (R: Herbert Maisch, 1940) legte NILS WERBER (Innsbruck) in seinem Vortrag „Genie und Jude. Normalität und Abweichung im Film des NS“ Analogien in der Darstellung von ‚produktiven’ als auch ‚destruktiven’ Ausreißern aus der gesellschaftlich konstruierten Normalerwartung offen. Zur Erhellung der damaligen zeitgeistigen Faszination an der Bestimmung menschlicher Norm, skizzierte Werber unter anderem im Rekurs auf die US-amerikanische Populationsgenetik und die deutsch-russischen Forschungszweige der Molekulargenetik zunächst die wissenschaftlichen Wurzeln der ideologieabgeleiteten Volksvorstellungen. Anhand der Hauptfiguren der beiden Filme illustrierte Werber jene entgegengesetzten Pole einer Normalverteilung (Genie und Volksfeind), die im NS zum Anlass einer Biopolitik der Zucht und Ausrottung wurden. Den von Foucault beschriebenen Mechanismus der Entindividualisierung, der aus der Absolutsetzung des biopolitischen Denkens resultiere, konnte man in beiden Filmen daran ablesen, dass die das hergebrachte Herrschaftsprinzip der alten Souveränität repräsentierende Figur des Königs zunehmend an Legitimation einbüßt und von Volksmechanismen ersetzt wurde.

Der Medienphilosoph LORENZ ENGELL (Weimar) widmete sich in seinem Beitrag „Nullzeit und Normalzeit in Helmut Käutners Film ‚Unter den Brücken’“ der Frage, wie Normalität und Abweichung filmästhetisch ins Werk gesetzt werden können. Engell deutete die Visualisierung der Quasi-Normalität der Spreeschiffer Hendrik und Willy in ihrem endlosen Wechsel von Kanälen, Brücken und Schleusen als einen filmischen Versuch, Zeiterfahrung zu synchronisieren und einen Ausnahmezustand virtuell auf Dauer zu stellen. Obschon 1944 als ein Spätprodukt des ‚Dritten Reiches’ entstanden, könne „Unter den Brücken“ aufgrund dieser prospektiven Bemühung um filmische Repräsentation von Zukunft in der Gegenwart als erster Nachkriegsfilm gelten.

Mit den um die Konstruktion von Normalität bemühten Darstellungen des Jüdischen in DEFA-Filmen setzte sich FRANK STERN (Wien) in seinem Vortrag „Humanismus und Antifaschismus – Judendarstellungen im Filmschaffen der DEFA“ auseinander. Der Versuch der DEFA, u.a. durch Rückgriff auf Sicht- und Darstellungsweisen der Zwischenkriegszeit Stereotype zu vermeiden, glitt allerdings, so Stern, dort oftmals ins Philo-Jüdische ab. Von einmaliger Bedeutung seien in diesem Zusammenhang Filme wie „Ehe im Schatten“ (R: Kurt Maetzig, 1947) und der Vierteiler „Die Bilder des Zeugen Schattmann“ (R: Kurt Jung-Alsen, 1972), weil sie das gesamte Spektrum der „Diskriminierungsnormalität“ des Nationalsozialismus abbildeten. Anders als in den USA, in denen sich DEFA-Filme schon seit Jahren eines großen Interesses erfreuten, leide die filmhistorisch mehr als lohnende DEFA-Rezeption in Deutschland, so Stern, allerdings nach wie vor an den Nachwirkungen des antikommunistischen Paradigmas.

Welche Traumata und Sehnsüchte die westdeutsche Wirtschaftswundergesellschaft beschäftigten, zeichnete SÖREN PHILIPPS (Hannover) in seinem Vortrag „Überformte gesellschaftliche Wirklichkeit im Deutschen Heimatfilm der 1950er-Jahre“ nach. Protagonisten wie verlorene Söhne, Wilderer und andere Außenseiter, die aus den nicht nur farblich überharmonisierten Landschaften der Heimatfilme hervorstechen, verwiesen auf das Wunschbild einer normalisierten Republik, in der die gesellschaftliche Integration des Fremden und damit die Versöhnung mit dem Geschehenen möglich ist. Eine wesentliche, für heutige Betrachter kaum noch verständliche Qualität der Heimatfilme lag deshalb kontextuell auch in der Bereitstellung von Identifikationsangeboten für Vertriebene, die sich unter anderem in der Heraufbeschwörung von emotional kodierten Raumeindrücken spiegelte, in dem Sinne etwa, das die im Film emphatisch als „Heimat“ semantisierte Darstellung der Lüneburger Heide Reminiszenzen an Schlesien oder Ostpreußen wecken konnte.

Klang mit der Wilderer-Thematik schon in den Heimatfilmen das Inzest-Motiv an, so suchte JÖRN AHRENS (Gießen) auch in den Heinz Erhardt-Filmen Ikonographien devianter Sexualität zu entziffern, die eine Analyse der Normalisierungmechanismen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft ermöglichen. In seinem Vortrag „Inzest im intimen Kollektiv? Deutscher Film der 1950er-Jahre und antipolitische Gemeinschaftsbildung“ gab Ahrens zu bedenken, dass auch ein Film wie „Natürlich die Autofahrer“ (R: Erich Engels, 1959) inhaltlich wie visuell latent an die Thematik des Skandalfilms „Die Sünderin“ (R: Willi Forst, 1951) anknüpft und das dort erzählte Inzestmotiv auf humoristisch-verharmlosende Weise wiederholt. In der Gegenüberstellung von Harmonie und Konfliktsättigung erscheint die Familie hier als ein aus der Abkehr vom politischen Kollektiv geborener Schutzraum, der keineswegs verschont bleibt von gesellschaftlichen Übergriffen und Verletzungen, in seiner konsequenten Entpolitisierung aber Perspektiven einer normalisierten, postfaschistischen Konsumgesellschaft bietet.

Eine Chronologie der filmischen Inszenierungen der RAF-Gewalttaten unternahm KNUT HICKETHIER (Hamburg) in seinem Vortrag „Die filmische Reflexion des RAF-Terrors“. Von den vier unterschiedenen Phasen der filmischen Rezeption zeichne sich die erste Phase (1971-1977) durch eine indirekte Thematisierung des RAF-Terrors aus, wogegen die direkte Thematisierung erst ab 1978 mit Filmen wie „Der Deutsche Herbst“ (R: Volker Schlöndorff, 1978), „Bleierne Zeit“ (R: Margarethe von Trotta, 1981) und „Wundkanal“ (R: Thomas Harlan, 1981) eingesetzt habe. Mit der veränderten Filmproduktion habe ab 1992 dann mit Filmen wie „Rotwang muß weg“ (R: Hans-Christoph Blumenberg, 1994) eine zum Teil satirische Neubestimmung des Verhältnisses von Terror und Gesellschaft begonnen, in der dem Thema RAF zunehmend die Marginalisierung drohte. Eine distanzierte Fiktionalisierung, die sich der Mythologisierung zu entziehen sucht, zeichne, so Hickethier, die nach 2001 gedrehten Filme über den RAF-Terror aus.

In seinem Vortrag „Normalitätsbruch als Normalität in den Filmen Michael Hanekes“ beschäftigte sich LARS KOCH (Berlin) mit der Frage, inwieweit Haneke in der filmischen Darstellung von Gewalt sowie von Verdrängungs- und Schulddynamiken eine Analyse der in der Spätmoderne zunehmend fehlgehenden sozialen Normalisierung leistet. Anhand der Filme „Wolfzeit“ (2003) und „Caché“ (2005), zeigte Koch unter Rückgriff auf Foucault und Agamben, dass die spätmoderne Gouvernementalität Praktiken der Vergemeinschaftung zunehmend unmöglich macht. In diesem Sinne fungieren die Filme Hanekes als Beobachtungskonstellationen, in denen das Scheitern von Kommunikation vorgeführt und nach Chancen und Grenzen einer kritischen Filmkunst gefragt wird.

Mit der Dramatisierung von Normalität und Abweichung im Migrationsfilm befasste sich ORTRUD GUTJAHR (Hamburg) in ihrem Vortrag „Migration in die Ungleichzeitigkeit – Filmische Narrative im Werk Fatih Akins“. Nach einem Abriss der Geschichte des Genres Migrationsfilm bzw. des indigenen Films, setzte sich Gutjahr insbesondere mit Fatih Akins „Gegen die Wand“ (2004) auseinander, durch den der Migrationsfilm deutlich aus der Nische des Problemfilms heraus und in die Arena der filmischen Populärkultur getreten sei. Dieser erste Teil der in Entstehung begriffenen Trilogie „Liebe Tod und Teufel“ exerziere eine „Schuld und Sühne“-Dramaturgie, welche sich insbesondere dadurch auszeichne, dass sie den Körper als Medium des Ausbruchs aus der Normalisierungsgesellschaft einsetze. Interessant sei dabei vor allem, dass Akin die von seinen Protagonisten abgelehnte Normalität vor allem als von tradierten türkischen Verhaltensvorschriften und Geschlechterkonventionen dominiert beschreibt. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft kommt in „Gegen die Wand“ – wenn überhaupt – nur am Rande vor.

In ihrem Vortrag „Was ist ‚richtig’ und was ist ‚falsch’? Zur Differenz von Recht und Unrecht im deutschen Spielfilm nach 1945“ beschäftigte sich WARA WENDE (Groningen) mit der filmischen Inszenierung von Rechts- und Unrechtsvorstellungen, die in den herangezogenen filmischen Beispielen aus privatisiertem Weltverbesserertum sukzessive in Selbstjustiz abgleiten. Gegenstand von Wendes Überlegungen waren die Filme „Muxmäuschenstill“ (R: Marcus Mittermeier, 2004) und „Die Fetten Jahre sind vorbei“ (R: Hans Weingartner, 2004), in denen einerseits Mux einen selbstgerechten Feldzug gegen den Werteverfall unternimmt und andererseits Jan mit seinen Freunden mittels diffusem Einbruchsaktionismus die saturierte Wohlstandsordnung auf den Kopf zu stellen sucht. Die Diskrepanz zwischen persönlichem Gerechtigkeitsgefühl und codiertem Recht auslotend, legte Wende dar, wie diese selbsternannten „Erziehungsberechtigten“ im Rechtsexzess über ihre eigenen Ansprüche stolpern und im Spannungsfeld von Legalität und Legitimität orientierungslos zu werden drohen.

In seinem Vortrag zu „Oscar-Nominierungen als Instrument der geschichtspolitischen Herstellung von Normalität“ verfolgte HANS-JÖRG SCHMIDT (Schriesheim) abschließend die These, dass das deutsche Außen-Geschichtsbild wesentlich von den Entscheidungen der deutschen Oscar-Auswahlgremien beeinflusst werde. Den Auftakt zur einsetzenden geschichtspolitischen Normalisierung bildet dabei „Der Hauptmann von Köpenick“ (R: Helmut Käutner, 1956), der 1957 als erster deutscher Film eine Nominierung in der Kategorie „bester nicht-englischsprachiger Film“ erhielt. Normabweichende Persönlichkeiten, die das „andere Deutschland“ in Absetzung zum meist diktatorischen Kontext der Rahmenhandlung figurieren, waren schließlich auch die Protagonisten der deutschen Filme, die bisher den Oscar erhielten: „Die Blechtrommel“ (R: Volker Schlöndorff, 1979), „Nirgendwo in Afrika“ (R: Charlotte Link, 2004) und „Das Leben der Anderen“ (R: Florian Henckel von Donnersmarck, 2006).

Im Ganzen bot die Tagung eine Vielzahl von Perspektiven auf filmische Normalisierungsleistungen, wobei vor allem auf die Thesen und Methoden der im angelsächsischen Wissenschaftsraum vorangetriebenen „film studies“ rekurriert wurde, die das Medium Spielfilm im Kontext gesellschaftlich-politischer Fragestellungen zu verorten suchen. Die Publikation der Tagungsergebnisse wird – erweitert um eine Reihe weiterer Fallstudien – 2009 im transcript-Verlag erscheinen.

Konferenzübersicht:

Eröffnung Wara Wende (Groningen), Lars Koch (Berlin), Joachim Umlauf (Amsterdam): Film als gesellschaftliches Reflexionsmedium

Niels Werber (Innsbruck): Genie und Jude als Typologien der Abweichung im filmischen NS

Lorenz Engell (Weimar): Stehende Gewässer – Nullzeit und Normalzeit in Helmut Käutners Film "Unter den Brücken"

Frank Stern (Wien): Humanismus und Antifaschismus – Judendarstellungen im Filmschaffen der DEFA

Christian Schulte (Berlin): Kontinuität und Bruch im deutschen Nachkriegsfilm der 1950er-Jahre

Sören Philipps (Hannover): Überformte gesellschaftliche Wirklichkeit im Deutschen Heimatfilm der 1950er-Jahre: Verlorene Söhne, Wilderer und andere Außenseiter

Jörn Ahrens (Gießen): Inzest im intimen Kollektiv? Deutscher Film der 1950er-Jahre und antipolitische Gemeinschaftsbildung

Hermann Kappelhoff (Berlin): Politik der Form im neuen deutschen Autorenfilm der 1960er-Jahre

Knut Hickethier (Hamburg): Die filmische Reflexion des RAF-Terrors

Lars Koch (Berlin): Normalitätsbruch als Normalität in den Filmen Michael Hanekes – Filmische Annäherungen an Giorgio Agambens Theorie des Ausnahmezustands

Ortrud Gutjahr (Hamburg): Migration in die Ungleichzeitigkeit – Filmische Narrative im Werk Fatih Akins

Wara Wende (Groningen): Vor dem Gesetz – oder: Was ist 'richtig' und was ist 'falsch'? Zur Differenz von Recht und Unrecht im deutschen Spielfilm nach 1945

Hans-Jörg Schmidt (Schriesheim): Oscar-Nominierungen als Instrument der geschichtspolitischen Herstellung von Normalität